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Bildungsforschung: Lerndefizit der »Generation Corona« ist immens

Schülerinnen und Schüler haben während der Coronapandemie 35 Prozent des normalen Lernfortschritts eingebüßt. Die Lücken sind in einkommensschwachen Familien am größten – und in Mathe.
Ein Mädchen sitzt erschöpft vor dem Rechner
Die Corona-Pandemie hat sich nicht nur auf die kognitive, sondern auch auf die psychosoziale Entwicklung und die körperliche Verfassung etlicher Schüler und Schülerinnen negativ ausgewirkt.

Es ist noch gar nicht so lange her, da verwandelten sich Küchen- und Wohnzimmertische Tag für Tag zu Schreibtischen und Pulten wie in Klassenzimmern. Lehrer und Lehrerinnen mussten Lernmaterialien per Mail verschicken und blickten auf ihren Laptops in zahlreiche ratlose Augenpaare. Während der Covid-19-Pandemie blieben nach Angaben der UNO mehr als 1,6 Milliarden Schülerinnen und Schüler in 190 Ländern zeitweise in ihrem Zuhause eingeschlossen und konnten nicht zur Schule gehen. Erst langsam zeichnet sich ab, welche Auswirkungen das hatte. In einer Metaanalyse, die nun im Fachblatt »Nature Human Behaviour« erschienen ist, kommen drei Forscher zu dem Ergebnis, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen mehr als ein Drittel des normalen Lernzuwachses pro Schuljahr verloren haben.

Die groß angelegte Analyse umfasst 42 Studien aus 15 Ländern, darunter vor allem solche aus Großbritannien und den USA, aber auch vier Studien aus Deutschland. Neben dem Lerndefizit in verschiedenen Schulfächern erfassten Bastian Betthäuser vom Institut d'études politiques de Paris, Anders Bach-Mortensen von der University of Oxford und Per Engzell vom University College London auch den soziodemografischen Status und das Durchschnittseinkommen im Land. Es zeigt sich, dass sich die Lernfortschritte während der Corona-Pandemie insgesamt erheblich verlangsamt haben – die Schüler und Schülerinnen verloren über alle Klassenstufen hinweg insgesamt 35 Prozent des Lernfortschritts eines normalen Schuljahrs. In Ländern mit mittlerem Durchschnittseinkommen wie Brasilien und Mexiko war das Lerndefizit größer als in Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen wie den USA und Großbritannien. Zwischen den einzelnen Klassenstufen ließen sich keine signifikanten Unterschiede erkennen, valide Daten zu Geschlechterunterschieden fehlen bislang. In Mathematik fielen die Kinder stärker zurück als etwa beim Lesen, was die Autoren damit erklären, dass Eltern mit ihren Kindern eher gemeinsam Bücher anschauen als Mathematikaufgaben bearbeiten.

Zudem zeigt sich, dass sich das Lerndefizit im Lauf der Pandemie nicht verringert hat, sondern über Mai 2022 hinaus anhält. Der deutsche Bildungsforscher Klaus Zierer von der Universität Augsburg befürchtet, dass »sich eine ›Generation Corona‹ bildet, die besonders stark unter der Pandemie gelitten hat«. Die Lernlücken zu schließen, stelle sich als schwierig heraus. Es treffe vor allem die Jüngsten im System mit einem bildungsfernen Hintergrund aus wirtschaftlich schwachen Ländern. »Das verdeutlicht einmal mehr die Bildungsungerechtigkeit im Land und auch weltweit«, sagte er dem Science Media Center (SMC). Es müsse nun alles getan werden, um die Defizite aufzuholen. »Leider haben viele Länder die ersten Möglichkeiten – Stichwort ›Sommerschulen‹ – verpennt oder absolut unreflektiert implementiert. Damit ist noch mehr Zeit verloren gegangen.« Der Mangel an Lehrkräften erschwere das Aufholen des Lerninhalts, insbesondere für Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwachen Haushalten.

Zierer kritisiert in dem Zusammenhang vor allem die Sicht auf die Digitalisierung als »Retter in der Pandemie«. Das Gegenteil sei der Fall gewesen. Sie sei zum Treiber von Bildungslücken geworden. »Was vielfach geschehen ist – Lernenden Tablets in die Hände zu drücken und zu hoffen, dass diese positiv wirken –, ist als gescheitert anzusehen«, sagt er. Der Konsum digitaler Medien habe sich dadurch in der Freizeit sogar noch erhöht.

Benjamin Fauth, Leiter der Abteilung Empirische Bildungsforschung am Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg, lobt die Methodik der Analyse gegenüber dem SMC. »Es handelt sich wahrscheinlich um die bislang umfassendste Studie zu Lernrückständen nach der Corona-Pandemie«, sagt er. Allerdings vermisst Fauth einen entscheidenden Aspekt. »Wenn man Lehrkräfte befragt, so wird deutlich, dass neben den eigentlichen Lernrückständen noch ein anderes Problem im Vordergrund steht, nämlich der ganze psychosoziale Bereich«, sagt er. »Mein Eindruck ist, dass die Schulen zurzeit in diesem Bereich sehr viel Arbeit damit haben, bestimmte Lernroutinen wieder einzuüben und das ganze soziale Miteinander wieder auf die Reihe zu bekommen.« Es habe sich gezeigt, wie wichtig ein gutes, lernförderliches Feedback an die Schülerinnen und Schüler ist. Ein »Aufholprogramm«, wie es die Bundesregierung aufgesetzt hat, werde allein nicht ausreichen. »Am Ende wird es nur über eine gezielte Förderung auch im Regelunterricht gehen.«

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